Sensthof-Info
2006 Reetz, 20.12.2006
Mein Landprojekt (Mein Anschreiben
an die Gemeinden Brandenburgs bei der Suche nach einem Anwesen)
Ich bin Ingenieur im Ruhestand, 62 Jahre alt und lebe
in Berlin.
Seit mehreren Jahren habe ich die Idee und den Wunsch,
auf dem Land zu siedeln. Das hängt mit meiner Herkunft (Dorf) und mit meinen
Vorstellungen zusammen, naturverbunden in einer Gemeinschaft zu leben.
Auch möchte ich ein Wohnmodell zum gemeinsamen Leben
im Alter entwickeln: Der Ruhestand als Beginn einer neuen, kreativen
Lebensphase. Jeder soll sein Engagement, seine Erfahrungen und Fertigkeiten
einbringen können in eine solidarische Lebensgemeinschaft mit regem geistigen,
künstlerischen und handwerklichen Austausch.
Was ist dafür alles nötig?
Welche Grundstücke könnten dafür
geeignet sein?
Könnte
das Projekt eine Bereicherung für eine Dorfgemeinschaft sein?
Ich glaube ja.
Das Projekt soll kein Fremdkörper im Dorf sein,
sondern sich der Dorfgemeinschaft öffnen als Ort kultureller Veranstaltungen,
dörflicher Kommunikation und Reflektion.
Auch sollen sich Stadt und Land hier begegnen können
z.B. in Form eines Wochenend-Cafès für Wanderer oder kleinen
"Kulturimporten" aus den Städten, insbesondere aus Berlin.
Diese Vision trug ich viele
Jahre in mir herum. Am 15. Dezember 2005
wurde sie real in Form einer Hofbesichtigung in Reetz. Der Hof stand leer und
zum Verkauf. Er lief mir sozusagen zu,
ohne daß ich mich anstrengen mußte: Mein
Siedlungswunsch wurde bei einer Wanderung im Hohen Fläming von einer wachen
Wiesenburger Dame weitergetragen und führte zu diesem Termin. Es war ein
regnerischer, kalter Tag. Der Vierseitenhof zeigte sich traurig: Eingebrochene
Dächer, verfaulte Türen, kaputte Fenster ohne Glas, feuchte Keller, kaum eine
Modernisierung oder Pflege in dem 100 Jahre alten Anwesen des ehemals größten
Bauern von Reetz. Aber ich verliebte mich sofort in seinen vom Verfall
gekennzeichneten Charme. Veronika, meine Begleiterin, meinte etwas zweifelnd:
"Ist das nicht eine Nummer zu groß?".
Doch es erfüllte sehr gut meine Projektvorgaben – und sein Preis war so,
daß ich ihn zunächst einmal ohne Teilhaber finanzieren konnte.
Die Verkäufer – eine mir
wohlgesonnene Erbengemeinschaft – konnten sich mit meinem Projekt anfreunden
und ließen mich im Januar 2006 drei Tage und Nächte dort wohnen – ohne Strom
und bei Minustemperaturen. Ich konnte so den Zustand der Gebäude etwas genauer
studieren. Zufällig kam ich in den
Besitz der Dorfchronik von Reetz, eine sehr sensible, wissenschaftlich
begründete historische Arbeit von John Shreve, einem amerikanischen Philologen,
der sich bereits zur DDR-Zeit in eine Reetzerin verliebt hatte und sich nach
der Wende für die Dorfgeschichte begeisterte.
Nachts, bei Kerzenlicht, las ich darin. Und die fremden Mauern, in denen
ich wohnte, wurden plötzlich lebendig. Die Personen, die hier und im Dorf
gelebt hatten (auch Richard Senst*, der Begründer des Hofes), nahmen in meiner
Phantasie Gestalt an und ich war unter ihnen.
Meine ganzen Zweifel, die ich
hatte – ist Preis gerechtfertigt und schaffe ich das alles? -
wurden so bezwungen. Meinem Sohn
Hannes sei Dank für seine Begutachtung aus der Sicht eines Bauingenieurs. Meinem
Freund und Laufkameraden Bernd sei Dank für seine Anteilnahme und seine
Ermutigungen bei unseren Grunewaldrunden und einem Besuch in Reetz.
Ende Februar wurde ich mit
der Erbengemeinschaft einig.
Mitte April – nach einer
längeren Planungsphase - richtete ich
mich auf meiner Baustelle ein. Ohne ein geeignetes Transportmittel ging das
nicht. Ich kaufte einen gebrauchten Kastenwagen. Keine Fahrt von Berlin nach
Reetz lief ohne volles Auto. Die in 25 Jahren in den Berliner Kellern
angesammelten, verstaubten Güter und Möbel wurden plötzlich sehr wertvoll und
von großem Nutzen. Die große Reetzer Küche wurde wieder zum Leben erweckt und
erhielt eine Notdusche mit Durchlauferhitzer. Ein Zimmer des großen Wohnhauses
erhielt ein Bett, einen Schreibtisch, Telefon und einen PC. Hier schlief ich
mit vielen meiner notwendigen Werkzeuge.
Die benachbarte Dorfkirche weckte mich jeden Morgen mit ihrem
7-Uhr-30-Geläut. Mein "neues" Leben konnte so beginnen.
Noch ist keine
Hofgemeinschaft entstanden. Dieses Jahr wollte ich mich erst einmal selbst
orientieren und mich vertraut machen mit meiner neuen Umgebung. Es ist das
Einsiedlerdasein eines Ingenieurs geworden, der seiner selbstgewählten
Herausforderung, alle Probleme allein zu lösen, gerecht werden mußte. Er konnte
endlich seine ökologische Haustechnik theoretisch und praktisch austoben. Er
war Herr eines kleinen, dreihektargroßen, verwilderten Paradieses geworden, in
dem er ordnend mit Sense, Säge und Spaten eingriff und zum ersten Mal in seinem
Leben einen Garten anlegte mit allerlei Beeten zur Selbstversorgung. Er fühlte
sich als kleiner Schöpfer. Er muß aber auch feststellen, daß Natur wuchert,
belebt ist und ihren eigenen Gesetzen gehorcht , d.h. kein Schlaraffenland ist.
Er muß sein Gärtchen gegen viele Nahrungskonkurrenten verteidigen.
Heute, zum Ende des Jahres,
tun mir Arme und Hände weh. Aber ich kann sagen: ich habe es geschafft.
Eine Birkenzeile am Feldweg
gepflanzt, einen Garten angelegt, die 7 Dächer sind dicht, eine Dachrinne
angebracht, 11 rottige Kellerfenster erneuert (der Keller ist inzwischen
trocken), die Hauselektrik vom
Hausanschluß und im Keller erneuert, 10 alte Wohnungsfenster mit Isolierglas
erhaltend modernisiert und repariert, ein Dachaustiegsfenster montiert und den
Schornstein mit Edelstahlrohren saniert, den Heizraum eingerichtet, den 25 KW
Biotech-Holzpellets-Heizkessel von Berlin nach Reetz transportiert und in den
Keller gewuchtet (Sohn Till sei Dank!), den 1000 Liter Pufferspeicher in den
Boden eingelassen, den Heizkessel auf den Estrich-Sockel gestellt und
zusammengebaut (die Abnahme durch den Schornsteinfeger steht noch bevor.
Derzeit heize ich nur mit dem Küchenherd und verbrenne das Abfallholz des
Hofes), der Wasseranschluß des Hauses ist erneuert und die Wasserrohre im
Keller kurz vor der Vollendung, das
Backhaus darf wieder rauchen (Ursula sei Dank!), drei von 7 rottigen Kachelöfen
sind abgerissen, ein großes Zimmer ist kurz vor der Fertigstellung (inklusive
abgeschliffener Dielen), ein Gästezimmer ist eingerichtet, die Mäuse sind
gefangen, der Hof wurde entrümpelt, der Schutt weggefahren, die Obstschwemme
ist in den Marmeladengläsern, das Gras ist gemäht (Mary´s Sensenkünste sei
Dank!) den Hohen Fläming habe ich im Umkreis von 10 km abgelaufen und vieles
andere mehr.
Meine Freunde können mit mir
feiern. Meine 22 Nachbarn kenne ich allerdings noch nicht alle, aber sie werden
im neuen Jahr zu einem Hoffest eingeladen.
Der Lindenplatz wird derzeit
von der Gemeinde neu gestaltet. Auf diese Weise ist mir nun auch noch ein
Kleinbagger zugelaufen: Die Baugeräte
des Bauunternehmens dürfen im Hofgeviert untergebracht werden. Als
Gegenleistung gräbt man mir einen Verbindungskanal zwischen großem Wohnhaus und
Kutscherhaus. Hier werden die Rohre für Ab- und Regenwasser, die Heizungs-, Wasser
und Stromversorgung untergebracht. Das ist nämlich die Voraussetzung, damit das
Kutscherhaus mit seinen zwei kleinen Wohnungen künftig als komfortables
Gästehaus genutzt werden kann.
Der Grundstein ist gelegt.
Das neue Jahr wird spannend werden.
Anmerkung:
*): Zum Begründer des Hofes, Richard Senst:
Es gab im Dorf zwei Personen
mit dem Namen Richard Senst.
Sie waren ähnlichen
Alters und nicht miteinander verwandt.
Auf den ersten Blick erscheinen sie mir wie "Dr. Jackill an Mr.
Hyde": Der eine verkörperte das Gute und der andere das Böse in der Zeit
des Nationalsozialismus. Als ich John Shreves Chronik las, habe mir natürlich
gewünscht, daß der Geist des "guten Richard" in diesem Haus lebte.
Eine Anfrage bei John Shreve
ergab folgende Klärung (ich hoffe, ich darf sie ohne seine ausdrückliche
Zustimmung anfügen):
Lieber Herr Wankmüller,
Richard Senst, geb. am 10.08.1883, war allgemein als
"Erdmann" Senst bekannt. So hieß einer seiner Vorfahren und
Spitznamen blieb haften.
Man soll ihn nicht mit Richard Senst, dem
Ziegeleibesitzer verwechseln. Jener Richard Senst hätte eine Gedenktafel auf
jeden Fall verdient, denn er hat den einzigen Juden im Dorf lange geschützt,
ihm Arbeit gegeben und nachdem dieser Mann in Auschwitz ermordet wurde, die Familie
unterstützt.
"Erdmann" Senst war Amtsvorsteher und trat
1933 - wie die ganze Dorfelite außer dem obengenannten Richard Senst - in die
NSDAP ein. Nachdem die Schikanen gegen den einzigen Juden im Ort verschärft
wurde, mußte dieser, Israel Rabinowitsch, sich täglich bei Erdmann Senst
melden. Es wundert nicht, daß Rabinowitschs Familie keine besonders hohe
Meinung von Erdmann Senst hat. Als Rabinowitsch nach Potsdam gelockt wurde und
anschließend nach Auschwitz kam, wußte es vorher die Ortsgruppe der Partei. Ich
kann es mir kaum anders vorstellen, als daß zumindest der Ortsgruppenleiter,
der Dorflehrer Hermann Gottschalk, und dem Amtsvorsteher, der Polizeigewalt im
Ort, eben Erdmann Senst, Bescheid wußten, ehe Rabinowitsch nach Potsdam
bestellt wurde und daß er nie wieder kommen würde. Erdmann Senst gehörte
nach meinem Wissen nicht zu der Gruppe Nationalsozialisten die unmittelbar nach
dem Einmarsch der Roten Armee verhaftet wurden. Jedenfalls wurde er aber 1946
wegen eines Waffenfundes auf seinem Hof verhaftet und kehrte nie zurück. Siehe
S. 202 (oben) in meinem Reetz Buch!
Persönlich sähe ich keine Berechtigung für
Gedenktafel, aber das müssen Sie wissen. Der Hof, wenn Sie ihm einen Namen
geben wollen, hieße aber am besten "'Erdmann'-Senst-Hof", denn viele
Reetzer wissen nicht, daß Erdmann Senst eigentlich Richard Senst hieß und würden
ihn mit dem Ziegeleibesitzer verwechseln.
Ich hoffe, daß diese Information Ihnen hilft.
Alles Gute.
John Shreve
Reetz,
Gemeinde Wiesenburg/Mark, Kreis Belzig:
Vogelperspektive auf Reetz und Lindenplatz 1
Wo ist Reetz auf der Landkarte?
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